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Über [die] Kriegsdienstverweigerung...

Can Başkent

ÜBER [DIE] KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG [von MEHMET TARHAN] IN DER TURKEI

CAN BAŞKENT

Übersetzer: A. Ç.

1 Kurze Geschichte der Kriegsdienstverweigerung von Mehmet Tarhan

Geschichte ist langweilig. Aber glauben Sie mir, wenn es dabei um einen Ihrer Freunde geht, dann wird die Geschichte nicht mehr langweilig.

1.1 Die Festnahme

Mehmet erklärte seine Kriegsdienstverweigerung 2001. Ich werde an dieser Stelle auf die Details seiner Erklärung nicht eingehen. Mehmet wurde am 8. April 2005 in Izmir festgenommen. Er kam nach Izmir im Auftrag des Verlags, bei dem er arbeitete. Morgens um ca. 05:00 wurde er in dem Hotel, in dem er übernachtete, festgenommen und wegen Dienstflucht der Militärbehörde Izmir überstellt. Am nächsten Tag gingen wir, AntimilitaristInnen aus verschiedenen Städten, ihn aus Hilfe und Solidarität im Militärgefängnis besuchen. Er schien in guter Verfassung zu sein. Er erzählte uns, dass es nun für ihn losginge. Am selben Tag wurde Mehmet ins Militärgefängnis in Sivas überführt. Wir veranstalteten für ihn eine kleine Abschiedsfeier. Natürlich wurden sofort Solidaritätsinitiativen gegründet, vor allem in Istanbul. Die internationalen Kampagnen und Verteilung der Informationen begannen schon am selben Abend. Als Mehmet seiner militärischen Einheit übergeben wurde, weigerte er sich, wie jeder Kriegsdienstverweigerer, die Militäruniform anzuziehen, und sofort bekam er eine Disziplinarstrafe wegen des Beharrens auf Ungehorsam. An dem bisherigen Ablauf gab es nichts Überraschendes für uns.

1. 2 Das Gericht und die Folter

Nach drei Wochen fand die erste Gerichtsverhandlung statt. Als die antimilitaristische Gruppe aus der Türkei waren auch wir zusammen mit einer internationalen Delegation für den Gerichtstermin in Sivas. Der Termin wurde leider verschoben und es wurde entschieden, Mehmet weiterhin gefangen zu halten. Danach begannen die Misshandlungen und die Folter, mit Zustimmung des Militärs und Staates. Mit dem Einsatz der Anwälte und durch Presseerklärungen wurde die juristische Prozedur in Gang gesetzt, ehe die Situation lebensgefährlich wurde. Die AntimilitaristInnen, die aus verschienen Städten zum Gerichtstermin nach Sivas kamen, wurden von den Sicherheitsbehörden mehrmals festgenommen, verprügelt und schikaniert. Um gegen seine menschenunwürdige Behandlung zu protestieren, unternahm Mehmet mehrere Hungerstreiks. Den letzten Hungerstreik begann er am 30. September, um gegen die Maßnahmen im Gefängnis zu protestieren. Erst als die Gefängnisverwaltung seine Forderungen akzeptierte, beendete er den Hungerstreik, der über einen Monat dauerte. Seit seiner Festnahme in den ersten Apriltagen ist Mehmet gefangen. Seit er wegen Dienstflucht in polizeiliches Gewahrsam genommen wurde, ist er gefangen. Er ist immer noch gefangen, weil er es ablehnte, mit einem Attest als untauglich ausgemustert und als kranker Homosexueller abgestempelt zu werden, um sich vor dem Militärdienst zu drücken. Am dritten Gerichtstermin wurde Mehmet freigesprochen; unter Berücksichtung seiner bisherigen Haftzeit wurde er entlassen und anschließend zur Ableistung des Militärdienstes seiner Militäreinheit überstellt. Als er sich dort wieder weigerte, die Uniform anzuziehen, wurde er erneut festgenommen und bestraft. Das letzte Gerichtsurteil lautete vier Jahre Haftstrafe. Dieses Urteil, gegen das Berufung eingelegt wurde, ist in den vergangenen Tagen von dem militärischen Revisionsgericht aufgehoben worden. Nun wird Mehmet wieder vor Gericht gestellt, allerdings muss er die zweite Haftstrafe wegen Befehlsverweigerung zwar nicht als Verurteilter, aber als Gefangener zu Ende absitzen. Ich hoffe, ich konnte Euch einigermaßen verständlich machen: Selbst wenn Mehmet freigesprochen wird, wird er wegen Befehlsverweigerung aufs Neue festgenommen, und das kann sich in dieser Weise bis in alle Ewigkeit wiederholen. Auch in Israel und Spanien ist das gleiche mehrere Male geschehen. Obwohl jemand, der einen Diebstahl begeht, für diese Straftat nur ein Mal bestraft wird, wird Mehmet für dieselbe Tat mehrmals bestraft, auch wenn seine Tat die Moral nicht verletzt. Deshalb wurde sein Fall von War Resisters’ International (WRI) der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen willkürliche Festnahme vorgestellt, so wie der Fall von Osman Murat Ülke. Wir erwarten auch eine ähnliche Entscheidung von der Arbeitsgruppe. Ich persönlich erhoffe mir, juristische gesehen, nicht viel von einer solchen Entscheidung. Denn die Entscheidungen der AG der Vereinten Nationen können höchsten die Verbindlichkeit einer Empfehlung haben.

1.3 Die Geschichte der Bewegung und Mehmet
1.3.1 Die politischen und theoretischen Grundlagen der Bewegung: Die ersten Anzeichen

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei eine 15jährige Geschichte hat. Die jahrelang ignorierte Kriegsdienstverweigerungsbewegung kam durch den Prozess gegen Osman Murat Ülke in Schwung und wurde dann besonders durch die Aktivitäten der Antimilitaristischen Initiative Istanbul verstärkt. In Zahlen ausgedrückt gab es in den ersten zehn Jahren, von 1990 bis 2000, 13 öffentlich bekannte Kriegsdienstverweigerer in der Türkei. In den fünf Jahren nach 2000 erklärten noch etwa 50 Personen öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung. Zu diesem Anstieg leistete sicher der zunehmende Rückzug des Militärs aus dem zivilen Bereich in der Türkei einen großen Beitrag. Man darf aber dabei auch den Golfkrieg, der in unmittelbarer Nähe der Türkei geschah, und die langen Jahre der Junta nicht außer Acht lassen.

1.3.2 2000er Jahre: Die erstarkende Bewegung und die wachsende Unterstützung

Besonders ab den 2000er Jahren stieg die Zahl der Verweigerer fast auf 60 an, und jährlich erklären ca. 15 Verweigerer ihre Kriegsdienstverweigerung. Die zunehmende Zahl der Verweigerer und die sozial-politische Einfluss der Bewegung auf die Gesellschaft verliehen der Bewegung einen dynamischen Zug. Deshalb nahm auch das gesellschaftliche Schweigen über die Bewegung und den Begriff‚ Kriegsdienstverweigerung’ zeitgleich und systematisch zu. Die Pressezensur, die politische Zensur sowie die systematische Nichtbeachtung hinderten die Bewegung daran, die Menschen zu erreichen und mit mehr Aktionen präsent zu werden. Nach der Stimmung, die gegen die Bewegung gemacht wurde, waren die Aktionen für die Aktiven selbst riskant, und ihre Ziele waren ganz und gar nicht realistisch. Trotzdem gelang es der Bewegung, im Vergleich zu den 90ziger Jahren, in einem schnelleren Tempo ihren Weg zu gehen. Mit den Straßenaktionen, mit der Beteilung am 1. Mai, mit Internetseiten und –foren versuchte die Bewegung, die verhinderte Kommunikation mit der Gesellschaft wieder in Gang zu bringen, und genießt denn auch nun eine relative hohe Bekanntheit und eine zunehmende rechtliche und gesellschaftliche Unterstützung.

1.3.3 Die Ziele und Aktivitäten der Bewegung

Die Ziele einer breiten Bewegung kann ich alleine nicht objektiv beschreiben. Aber der wichtigste Punkt, der betont werden muss, ist, dass die Bewegung generell nicht auf die Einführung der Möglichkeit des Zivildienstes anstelle des Militärdienstes hinarbeitet. Die komplette Abschaffung der Wehrpflicht und der Armee kann als ihr vorrangigstes Ziel bezeichnet werden. Sicher hatte in jenen Jahren, deren Zeuge ich wurde, die Verbreitung der Bewegung die oberste Priorität. Solidarität mit den gefangenen Verweigerern, juristische Unterstützung, Pflege der Internetdarstellung, Teilnahme an allgemeinen sozial-politischen Aktionen (Antikriegs- und 1. Mai-Aktionen) sind die wichtigsten Beispiele. Darüber hinaus kreierte die Bewegung ihre eigenen Aktivitäten: Militourismus, Fest der Kriegsdienstverweigerer und Reistag-Aktion usw.

1.3.4 Mehmet und die Bewegung

Mehmet ist ein Anarchist, der intensiv und aktiv in die oben angeführten Aktivitäten und KAOS GL, Organisation für die Rechte von Gays und Lesben, involviert ist. Er ist auch Kriegsdienstverweigerer. Er beteiligte sich an den meisten der aufgeführten Aktivitäten und auch an ihrer Organisierung. Seine Person war bereits politisch bekannt. Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass dies mit seiner Festnahme in einen unmittelbaren Zusammenhang steht. Mehmet wurde zufällig gewählt, aber diesmal hatten sie den falschen getroffen. Denn im Gegensatz zu der Erwartung und dem Wunsch des Staates fand sich Mehmet mit einem ‚Untauglichkeitsattest’ nicht ab und lehnte es sogar ab. In dem Militärkrankenhaus, zu dem er mit Gewalt überführt wurde, wurde er als tauglich eingestuft.

1.3.5 Die Bewegung und der Staat

Militärdienst ist Pflicht in der Türkei. Bevor die Türkei dem diplomatischen und gesetzlichen Druck der Europäischen Union nachgab, d.h. die Meinungsfreiheit faktisch viel eingeschränkter war, stellte die Kritik am Militär eine Straftat dar, für die schwere Strafen vorgesehen waren. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu fordern, militärische Ausgaben zu kritisieren, die Verkürzung des Militärdienstes oder den Freikauf zu fordern, bildet nun keine Straftat mehr. Diese aber in die Praxis umzusetzen, für diese Forderungen -gewaltfrei - zu demonstrieren, wird de facto verhindert. Die Kriegsdienstverweigerungsbewegung wurde bislang hauptsächlich von AnarchistInnen und AntimilitaristInnen getragen. Die Bewegung führte bislang bewusst nur gewaltfreie Aktionen durch und bevorzugte eine horizontale Organisierung ohne Hierarchie. Das alles war für den Staat natürlich neu. Am Anfang wurde die Bewegung nicht sehr ernst genommen. Durch das früher geltende und schon von der Junta erlassene Vereinsgesetz wurde beispielsweise der Verein der KriegsgegnerInnen Izmir mehrmals geschlossen. In ähnlicher Weise wurden die Programmmacher aus dem Fernsehen und die Journalisten, die das Militär kritisierten, zu hohen Geldstrafen und sogar zu Haftstrafen verurteilt. Das ist nur die vordergründige rechtlichte Seite der Sache. Die Maßnahmen gegen die Bewegung waren in der Praxis immer strenger und repressiver: Die Aktionen wurden jedes Mal von der Polizei, dem Militär oder der Gendarmerie mit Videokameras aufgezeichnet, die AktivistInnen wurden abgehört, und dadurch wurde ein Druckmittel geschaffen. Das darf aber nicht missverstanden werden: Viele oppositionelle Gruppen in der Türkei sind dabei einer unvergleichlich strengeren Unterdrückung und Gewalt ausgesetzt. Die einfachste Repressionsmethode, die ich selbst miterlebte, war die zwar nicht rechtliche Verhinderung aber de facto Lahmlegung einer Aktion durch ein zwei- oder dreifaches Polizei- oder Militäraufgebot. Der härteste Eingriff ist die Gewaltanwendung und die gewaltsame Abführung der AktivistInnen. Ich möchte noch mal darauf hinweisen, dass diese Gewalt sich nicht nur gegen die Antimilitarist Innen, sondern gegen alle Oppositionelle, manchmal sogar gegen die politische Rechte richtet. In der jetzigen Phase kann also nicht von einer organisierten Staatsgewalt die Rede sein, die lediglich auf die antimilitaristische Bewegung abzielt. Aber die inhaftierten Verweigerer, so auch Mehmet, waren Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt, weil sie politische Gefangene waren. Weil sie die Institutionen selbst, in der sie sich befinden, ablehnen, erleben sie mehr Unterdrückung: die bewusste Verweigerung des Hofgangs und der alltäglichen Bedürfnisse (Zeitung etc.), das willkürliche Besuchverbot oder das Verbot des Briefempfangs und des Telefonierens, die Aufwiegelung anderer Gefangene gegen sie usw. Wie im Fall von Mehmet kann auch noch die koordinierte Schikane durch die anderen Insassen dazu kommen. Derartige Rechtsverletzungen sind schwer zu registrieren. Deshalb ist es meist sehr schwierig, dagegen etwas zu unternehmen. Aber diese Unterdrückung ohne gesetzliche Grundlage ließ manchmal dank der bürgerlichen Gesellschaft und internationaler Solidarität nach und verschwand. Besonders zu den Zeiten der Hungerstreiks wurde das oft beobachtet.

1.3.6 Die momentane Lage der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei

Aus juristischer Sicht sind die Kriegsdienstverweigerer dienst- oder fahnenflüchtig. Sobald man ihnen habhaft wird, müssen sie sogleich zur Rekrutierung dem Militär überstellt werden. Sie müssen eventuell auch eine zusätzliche Strafe absitzen, weil sie sich bis dahin versteckt gehalten haben. Der Status eines Wehrpflichtigen kommt bei den polizeilichen Routinekontrollen oder überall zu Tage, wo man durch das Sieb des Staates hindurch muss. Denn für alle amtlich-bürokratischen Angelegenheiten wird ein und selbe Datenbank benutzt, und da ist auch der Wehrpflichtstatus vermerkt. Die riegsdienstverweigerer können zum Beispiel keine vom Staat angebotene Stelle annehmen, weil sie gleich festgenommen würden. Sie können nicht ins Ausland reisen, denn sie würden bei der Passkontrolle festgenommen und sofort zur Rekrutierungsbehörde überführt. Was tun dann die Verweigerer? Entweder gehen sie einer selbständigen Beschäftigung nach und erledigen die Finanzführung unter falschen Namen und mit Hilfe von Freunden, die kein Problem mit dem Militärdienst haben; oder sie müssen arbeitslos werden. Auch wenn sie es verdienen, werden sie nirgendwo angestellt. Dies ist, gelinde gesagt, Ausgrenzung und eine Verletzung der Menschenrechte.

1.4 Homosexualität, Mehmet und die Armee

Weil seine Homosexualität durch die Presse ging, wurde Mehmet am Anfang im Militärkrankenhaus mit Gewalt einer Untersuchung unterzogen. Die männliche Armee will Männersoldaten; die Homosexuellen sind als Soldat unerwünscht, denn sie sind untauglich. Der Untauglichkeitsbescheid wird bekanntlich im Militärkrankenhaus nach einer menschenunwürdigen Behandlung ausgestellt. Die Bedeutung von Mehmets Haltung zeigt sich hierin. Denn er könnte sich ausmustern lassen und hätte dann den Militärdienst ein für alle Mal hinter sich. Das wäre aber keine politische und antimilitaristische Aktion. Mehmet hat sich für den schwierigen Weg entschieden und Widerstand geleistet. Denn er hat seine sogenannte Untauglichkeit als das Desaster des Militarismus betrachtet und dem widerstanden.

1. 5 Internationale Unterstützung

Die internationale Solidarität hat zu der Kriegsdienstverweigerungsbewegung in der Türkei immer einen großen Beitrag geleistet. Sowohl mit ihrer finanziellen Unterstützung wie auch durch den Druck der internationalen Öffentlichkeit hat sie in einem nicht zu unterschätzenden Maß zu der Überwindung vieler Handikaps beigetragen. Die Aktivitäten wie die diplomatischen Unternehmungen oder diese Veranstaltung hier sind die ersten Beispiele, die mir einfallen. Auch die Protestkundgebungen vor den türkischen Konsulaten und massenhafte Briefaktionen dürfen nicht vergessen werden. Ein paar internationale Organisationen, die die internationale Unterstützung tragen, seien hier erwähnt:
* War Resisters International (WRI): WRI hat in ihrer Webdarstellung zwei Sonderseiten für die Kriegsdienstverweigerer in der Türkei:
Auf Deutsch: www.wri-org/co/turkcampaign-de.htm
Auf Englisch: www.wri-org/co/turkcampaign-en.htm
* Amnesty International (ai): ai hat gemeinsam mit der WRI Aktionen angekündigt.
* Das Europäische Parlament: Infolge der Lobbyarbeit diverser antimilitaristischer Organisationen trug die Gruppe der Grünen den Fall von Mehmet Tarhan in das Europäische Parlament. Viele Abgeordnete von den Grünen schrieben an die türkische Botschaft, um ihre Soge um Mehmet Tarhan zum Ausdruck zu bringen.
* Und zahlreiche lokale Gruppen in Deutschland, Spanien, Italien, den USA usw.

1. 6 Die Adressen für Ihre Solidaritäts- und Protestbriefe

Die Anschrift für die Postkarte oder Briefe:
Mehmet Tarhan, 5. Piyade Eğitim Tugayı Askeri Cezaevi Müdürlüğü, Sivas TÜRKİYE
Tel.: +90 – 346 - 224 63 06 /+90 – 346 - 223 99 31 / +90 – 346 - 225 31 45, Fax: +90 – 346 - 225 39 15

1.7 Informationen zu den Kampagnen

Für die internationalen Kampagnen:
Englisch www.wri-org/co/cases/tarhan-en.htm
Deutsch www.wri-org/co/turkcampaign-de.htm
Türkisch www.savaskarsitlari.org/mehmettarhan, www.mehmettarhan.com

2 Die Zustände des Militarismus

Die militaristischen Zustände in der Türkei lassen sich endlos aufzählen. Aber die Unantastbarkeit des Militärs muss bei allem in erster Linie betont werden. Das Militär ist unantastbar, aber was bedeutet das?

Armee als Staatsgründer: Die moderne Türkei wurde nach einem Befreiungskrieg gegründet, der auf den Ersten Weltkrieg folgte. Wie in jedem Krieg kamen in diesem auch viele Massaker vor. Es gab viele Schwierigkeiten. Für das Fortbestehen der Armee- und Staatselite mussten diese Schwierigkeiten überwunden werden. Dies führte zu einem politischen Militarismus. Daran ist nichts besonderes, was nur die Türkei beträfe. In Spanien oder Italien kam ähnliches vor. Was türkeispezifisch ist, dass die Militärelite auch die Staatsgründer und Staatselite war. Wenn auch im 19. Jahrhundert die damaligen Intellektuellen die Ideen wie Nationalismus, Unabhängigkeit und ‚Freiheit’ in Anatolien zu verbreiten versuchten, fanden all diese Ideen in der Bevölkerung keine Aufnahme und konnten die Bevölkerung nicht in Bewegung setzen. Dem Befreiungskrieg fehlte also sein überzeugtes Volk. Das Militär musste diese Lücke schließen und handelte trotz dem Volk für das Volk. Die Armee verhielt sich wie eine bürgerliche Institution und setzte öfters gnadenlos seinen Gewaltapparat ein, um die Idee der Unabhängigkeit zu propagieren. Folglich bedeutete Verrat an der Armee Verrat an dem Staat, und dies bedeutete Verrat am Volk.

Armee als Gründer der modernen Gesellschaft: Um die Gesellschaft, die kriegsmüde war, zu einer modernen zu verwandeln, wurde wieder dieselbe Politik verfolgt. Die Wehrpflicht, die älter als der Staat selbst war, wurde als Schule der Nation heilig erklärt. Die Armee war nicht der Ort, an dem man nur eine rein militärische Ausbildung bekam. In der Armee wurden die jungen Männer beschnitten und alphabetisiert. Wie ein soziales Rotes Kreuz verhalf die Armee den Dörfern zum Wachstum. Auch in der Wirtschaft trug sie mit ihrer Holding (OYAK - Armeesolidaritätsfonds) zu der Kapitalakkumulation und Entwicklung der Industrie bei. OYAK mutierte später zu einer der größten Holdings der Türkei. OYAK ist die einzige Holding der Türkei, der es vor ein paar Jahren gelang, die schwere Wirtschaftskrise, die das Land mit hoher Inflation erschütterte, mit Gewinn zu überstehen, dank der enormen Privilegien wie billige Arbeitskraft, Soldatenarbeit, leichtes Marketing, dauerhafter Verkauf der Waren und Dienstleistungen an die Armee und den Staat... Es ist vielleicht nicht besonders interessant, dass das Militär in den Jahren, in denen es noch keine bürgerliche Gesellschaft gab, versuchte, vielleicht in guter Absicht, diese Lücke zu schließen. Allerdings unterband dies nicht nur, gelinde gesagt, die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie. Das Militär fordert auch von der Gesellschaft den Preis für seine Leistung. Dafür benutzt das Militär nicht nur die regulären Sicherheitskräfte (Armee, Polizei und Gendarmerie); es stützt sich auch auf den latenten und manifesten Faschismus, um unbehindert und legitim in die Innen- und Außenpolitik einzugreifen.

Armee als Beschützer der Gesellschaft: Wenn von Eingriffen in die Innen- und Außenpolitik die Rede ist, dürfen wir die primäre Aufgabe des Militärs nicht übergehen: Die Verteidigung des Landes gegen die eventuellen Angriffe der äußeren Feinde und der Nachbarländer. Aber welche Länder sind unsere Feinde, und welche sind unsere Freunde? Um die Gesellschaft im Alarmzustand zu halten, ist die Wehrpflicht ein unerlässliches Mittel – darüber sind wir uns wohl alle einig. So befindet sich Griechenland seit der türkischen militärischen Intervention auf Zypern, seit 30 Jahren, in einer allgemeinen Mobilmachung. Unter diesem Vorwand wird die juristische Prozedur zur Kriegsdienstverweigerung oft missachtet. In der Türkei wird, um die Bevölkerung in einem ständigen Alarmzustand zu halten, eine Sozialparanoia verbreitet: Die Menschen in der Türkei, ähnlich wie in Griechenland, glauben, dass ihr Land jederzeit okkupiert werden könnte und beinahe alle Nachbarländer jeden Moment angreifen würden. So wird der Militärdienst zu einer glaubwürdigen Notwendigkeit: Es wird jedes Bürgers Pflicht, sein Land gegen unendliche Drohungen zu verteidigen.

Das Militär, das die Gesellschaft formt: Der Militarismus ist maskulin und prägt auch die Männlichkeit nach seiner Vorstellung. Jedes Individuum schulde dem Militär sein Dasein, für das er bezahlen müsse. Gleichgültig ob reich oder arm, gebildet oder ungebildet, jeder müsse – auch wegen der sozialen Gerechtigkeit – diese Schuld bezahlen, wenn er dran ist. Sind Sie Student, dann nach Ihrem Studium. Sind Sie behindert, dann müssen Sie in symbolischer Weise nur für einen einzigen Tag, am Tag der Körperbehinderten, Ihre Aufgabe erfüllen, um auch mal in den Genuss dieser Ehre zu kommen. Sonst finden Sie keinen Job. Auch Ihr Chef macht sich wegen der bevorstehenden Wehrpflicht Sorgen, weil die Arbeit deswegen unterbrochen wird. Ihre Geliebte will sich mit Ihnen nicht verloben, weil Sie für eine lange Zeit weg sein werden, oder weil Ihnen dort etwas zustoßen kann. Die Situation gleicht der Ausgrenzung der schwangeren Frauen aus dem Arbeitsmarkt; unterschiedliche Ziele, aber eine ähnliche Diskriminierung... Man macht endlich die Augen zu und geht zum Militär.

3 Fazit

Als ich diese Zeilen verfasste, traf eine relativ erfreuliche Nachricht ein: Das militärische Revisionsgericht hat das Urteil zur vierjährigen Haftstrafe aufgehoben. Nun wird alles wieder vom Nullpunkt anfangen: Mehmet wird wieder vor Gericht gestellt, man wird wieder auf seine Entlassung hoffen und dafür kämpfen. Dies ist ein sehr gewöhnlicher Anblick des Militarismus in der Türkei: Der Staat schreibt das Urteil und der Staat streicht es ebenfalls, bis ihm jemand einen Knüppel zwischen die Beine wirft.

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